Holger Pohl: Aufschlag von unten “Manuskript eines Tennismatches” von Stephan Hartmann
“What happens when all of a man’s intelligence and athleticism is focused on placing a fuzzy yellow ball where his opponent is not?” (David Foster Wallace, The String Theory, Esquire, 1996)
Der Gesichtsausdruck Ivan Lendls nach dem Matchball verrät die große Fassungslosigkeit: Wie kann es ein Noname (Michael Chang) wagen, die unausgesprochenen Anstandsregeln des Systems zu missachten bzw. in Frage zu stellen? Wie kann das ausgefeilteste Spiel seiner Zeit, die härteste Vorhand, der stärkste Wille gegen einen Aufschlag von unten verlieren? Nach 4 Std. 37, in denen das Publikum seine Zuwendung lauthals durch Schreien, Pfeifen und Applaudieren artikulierte und die Spieler haderten, verzweifelten und kämpften, manifestierte sich auf der Seite des Verlierers Lendl nur noch blanke Enttäuschung.
Im Manuskript eines Tennismatches ist von diesen Gefühlsausbrüchen nichts zu sehen. Es führt den Rezipienten in ganz andere Gefilde: weg vom Spektakel des emotionalen Missbrauchs hin zur stillen, abstrakten Form. Das Spektakel generiert Rahmenbedingungen, spielt mit Erwartungshaltungen, entwickelt große Mythen und stürzt seine Helden. Diese großspurige Dramaturgie wird durch die Arbeit Holger Pohls unterlaufen, in dem sie in der Stille die Konfrontation und Auseinandersetzung sucht, ohne sich auf die verführerischen Attribute spektakulärer Inszenierung einzulassen.
In dem es sich der dem Spektakel innewohnenden Überrumpelung entzieht, sich also nicht auf den schnellen Moment ausrichtet, der die Entscheidung für eine Seite des Spiels beinhaltet, es entkleidet, in emotionslose Fragmente aufteilt, wird das künstlerisch unbefleckte Tennis als Ort der Reflexion bespielbar. Die Darstellung von Zeit rückt in den Vordergrund, in dem sie sich von 4h 37min dargestellter Zeit zu drei Monaten Lebenszeit ausdehnt, die es für das Verfassen des Manuskriptes brauchte: Seite für Seite gefüllt mit insgesamt weit mehr als 16000 Zeichen, akribisch mit dem Pinsel gemalte Schiedsrichteransagen, Spielstände und Kreuze, die jeweils für eine Sekunde des Spiels stehen und am Ende das Manuskript von viereinhalb Stunden umcodierter Zeit ergeben… In dieser Ausdehnung von Zeit, dieser Meditation, wird aus einer defizitorientierten Wahrnehmung, immer zu wenig Zeit zu haben, eine ressourcenorientierte Handlung, die eine Situation liest und deren Potentiale künstlerisch nutzt.
Wie bei anderen Zeitarbeitern, von Roman Opalka, Hanne Darboven bis On Kawara, offenbart sich im Manuskript eines Tennismatches ein Hang zum Obsessiven. Die beharrliche Strenge solcher Arbeiten ist stets auch ein Mittel, eine genaue Kunstbetrachtung einzufordern. Kurz vor Ende des vierten Satzes provozieren ein kleiner Totenkopf und ein Smiley einen Aufmerksamkeits-Shift, eine Umlenkung unserer Aufmerksamkeit. Kleine Emoticons, die in die nüchterne Protokollierung eine Lücke der Empathie reißen. Mit einem Augenzwinkern stellt sich das Manuskript gegen eine konformistische Lesart, in dem der absurde Kontext seiner Rezeption immer deutlich mitschwingt: Wie zum Teufel liest man bitte ein Tennisspiel?
Website: http://www.pohlholger.de
Jennifer Bennett: Vier Wochen, vier Themenfelder: In einem übergreifenden Ausstellungskonzept widmet sich Jennifer Bennett dem Realismus. Dem Leben mit der Kunst, der Wahrnehmung und dem Austausch. Beginnend in der Galerie Dorothea Schlueter, wo Bennett für die Dauer der Ausstellung wohnen wird, sind mehrere Skulpturen zu sehen, die die gleichen Themenfelder umschließen, die auch im Oel-Früh Cabinet ihre künstlerische Auseinandersetzung finden. Es geht um das zu Hause, dass man sich dann, wenn man viel unterwegs ist, immer wieder neu erfindet. Die Infrastruktur, die benötigt wird, um sich zu Hause zu fühlen. Dinge mit denen man sich umgibt, Gegebenheiten, welche Strukturen zulassen und uns im Gleichgewicht halten.
Bennett, die zeitweise selbstgewählt ohne eigene Wohnung war und für eine Weile in Detroit lebte, eine Stadt, die wie viele andere in den USA vor ökonomischen Problemen steht und durch diese geprägt ist, greift in ihren Arbeiten Überlegungen zu existenziellen Fragen auf. Soll ich Besitzverhältnisse fraglos anerkennen? Was passiert, wenn die Häuser zerfallen, weil die Menschen die sie bewohnten, sie verlassen mussten? Was wenn Väterchen Staat in den Ruhestand tritt und wir uns selbst um die Dinge kümmern sollen? Welche Erklärungsmodelle gibt es über eine übliche Gentrifizierungsdebatte hinaus?
Im Oel-Früh Cabinet werden neben einer Installation aus Abflussrohren zwei „Fadenbilder“ zu sehen sein. Zudem gibt es Gelegenheit zum Austausch: Im Cabinet, welches dem Restaurant Pane e Tulipani angeschlossen ist, wird die Künstlerin jeweils von Montag bis Freitag zur Mittagszeit anwesend sein, um das Gespräch mit Gästen zu suchen. Im Austausch mit diesen geht es wöchentlich um ein anderes Thema:
Fassade und Infrastruktur „Wenn man hinter die Fassade schaut, erkennt man die Infrastruktur. Oft verwandelt sich dann der Glanz in Desolanz. Welche Infrastrukturen benötigen wir täglich ohne es zu merken? Über welche sind wir uns stets sehr bewusst und auf welche nehmen wir wie Einfluss?“
Engagement und Ignoranz „Ignoranz ist der Zustand von Verneinung der Handlungsfähigkeit. Wie viel Ignoranz verträgt das dahinter und wann quillt es unaufhaltsam hervor? Engagement wird definiert als „Einsatz für eine Sache, auch Anstrengung, Wohltätigkeit“ und findet sich als Wort häufig dann, wenn es um Aufschneiderei im Sinne der Werbung geht. Was könnte Engagement noch sein, wenn Wohltätigkeit heute auch Social Investment ist?“
Daten und mein Auftauchen darin „Wer weiß mehr über mich als ich selbst? Bin ich ein Patient ohne Einblick in seine Akte? Gar ein Versuchskaninchen und was könnte daran positiv sein? Welche Auswirkungen hat es, wenn das Produkt mich findet, statt ich das Produkt, wenn ich das Produkt meiner Daten werde? Oder sind die Daten meine Ressource?“ ‚the internet of things‘ und geldlose Ökonomie „Was wenn eine Wohnung sich selbst besitzt und diese nur noch Bewohner anstatt Mieter kennt? Was bedeutet uns Privateigentum? Wo steht der Einzelne im Vergleich zum Ganzen im Umgang mit Ressourcen und fortwährender Vernetzung, die sich unserer Kontrolle entzieht? Ist das Teilen die sinnvolle geldlose Ökonomie der Zukunft? Was gehört mir, wenn allen alles gehört? Was macht dann das Ego?“
Holger Pohl: Aufschlag von unten “Manuskript eines Tennismatches”
von Stephan Hartmann
“What happens when all of a man’s intelligence and athleticism is focused on placing a fuzzy yellow ball where his opponent is not?” (David Foster Wallace, The String Theory, Esquire, 1996)
Der Gesichtsausdruck Ivan Lendls nach dem Matchball verrät die große Fassungslosigkeit: Wie kann es ein Noname (Michael Chang) wagen, die unausgesprochenen Anstandsregeln des Systems zu missachten bzw. in Frage zu stellen? Wie kann das ausgefeilteste Spiel seiner Zeit, die härteste Vorhand, der stärkste Wille gegen einen Aufschlag von unten verlieren? Nach 4 Std. 37, in denen das Publikum seine Zuwendung lauthals durch Schreien, Pfeifen und Applaudieren artikulierte und die Spieler haderten, verzweifelten und kämpften, manifestierte sich auf der Seite des Verlierers Lendl nur noch blanke Enttäuschung.
Im Manuskript eines Tennismatches ist von diesen Gefühlsausbrüchen nichts zu sehen. Es führt den Rezipienten in ganz andere Gefilde: weg vom Spektakel des emotionalen Missbrauchs hin zur stillen, abstrakten Form. Das Spektakel generiert Rahmenbedingungen, spielt mit Erwartungshaltungen, entwickelt große Mythen und stürzt seine Helden. Diese großspurige Dramaturgie wird durch die Arbeit Holger Pohls unterlaufen, in dem sie in der Stille die Konfrontation und Auseinandersetzung sucht, ohne sich auf die verführerischen Attribute spektakulärer Inszenierung einzulassen.
In dem es sich der dem Spektakel innewohnenden Überrumpelung entzieht, sich also nicht auf den schnellen Moment ausrichtet, der die Entscheidung für eine Seite des Spiels beinhaltet, es entkleidet, in emotionslose Fragmente aufteilt, wird das künstlerisch unbefleckte Tennis als Ort der Reflexion bespielbar. Die Darstellung von Zeit rückt in den Vordergrund, in dem sie sich von 4h 37min dargestellter Zeit zu drei Monaten Lebenszeit ausdehnt, die es für das Verfassen des Manuskriptes brauchte: Seite für Seite gefüllt mit insgesamt weit mehr als 16000 Zeichen, akribisch mit dem Pinsel gemalte Schiedsrichteransagen, Spielstände und Kreuze, die jeweils für eine Sekunde des Spiels stehen und am Ende das Manuskript von viereinhalb Stunden umcodierter Zeit ergeben… In dieser Ausdehnung von Zeit, dieser Meditation, wird aus einer defizitorientierten Wahrnehmung, immer zu wenig Zeit zu haben, eine ressourcenorientierte Handlung, die eine Situation liest und deren Potentiale künstlerisch nutzt.
Wie bei anderen Zeitarbeitern, von Roman Opalka, Hanne Darboven bis On Kawara, offenbart sich im Manuskript eines Tennismatches ein Hang zum Obsessiven. Die beharrliche Strenge solcher Arbeiten ist stets auch ein Mittel, eine genaue Kunstbetrachtung einzufordern. Kurz vor Ende des vierten Satzes provozieren ein kleiner Totenkopf und ein Smiley einen Aufmerksamkeits-Shift, eine Umlenkung unserer Aufmerksamkeit. Kleine Emoticons, die in die nüchterne Protokollierung eine Lücke der Empathie reißen. Mit einem Augenzwinkern stellt sich das Manuskript gegen eine konformistische Lesart, in dem der absurde Kontext seiner Rezeption immer deutlich mitschwingt: Wie zum Teufel liest man bitte ein Tennisspiel?
Website: http://www.pohlholger.de
Jennifer Bennett: Vier Wochen, vier Themenfelder: In einem übergreifenden Ausstellungskonzept widmet sich Jennifer Bennett dem Realismus. Dem Leben mit der Kunst, der Wahrnehmung und dem Austausch. Beginnend in der Galerie Dorothea Schlueter, wo Bennett für die Dauer der Ausstellung wohnen wird, sind mehrere Skulpturen zu sehen, die die gleichen Themenfelder umschließen, die auch im Oel-Früh Cabinet ihre künstlerische Auseinandersetzung finden. Es geht um das zu Hause, dass man sich dann, wenn man viel unterwegs ist, immer wieder neu erfindet. Die Infrastruktur, die benötigt wird, um sich zu Hause zu fühlen. Dinge mit denen man sich umgibt, Gegebenheiten, welche Strukturen zulassen und uns im Gleichgewicht halten.
Bennett, die zeitweise selbstgewählt ohne eigene Wohnung war und für eine Weile in Detroit lebte, eine Stadt, die wie viele andere in den USA vor ökonomischen Problemen steht und durch diese geprägt ist, greift in ihren Arbeiten Überlegungen zu existenziellen Fragen auf. Soll ich Besitzverhältnisse fraglos anerkennen? Was passiert, wenn die Häuser zerfallen, weil die Menschen die sie bewohnten, sie verlassen mussten? Was wenn Väterchen Staat in den Ruhestand tritt und wir uns selbst um die Dinge kümmern sollen? Welche Erklärungsmodelle gibt es über eine übliche Gentrifizierungsdebatte hinaus?
Im Oel-Früh Cabinet werden neben einer Installation aus Abflussrohren zwei „Fadenbilder“ zu sehen sein. Zudem gibt es Gelegenheit zum Austausch: Im Cabinet, welches dem Restaurant Pane e Tulipani angeschlossen ist, wird die Künstlerin jeweils von Montag bis Freitag zur Mittagszeit anwesend sein, um das Gespräch mit Gästen zu suchen. Im Austausch mit diesen geht es wöchentlich um ein anderes Thema:
Fassade und Infrastruktur
„Wenn man hinter die Fassade schaut, erkennt man die Infrastruktur. Oft verwandelt sich dann der Glanz in Desolanz. Welche Infrastrukturen benötigen wir täglich ohne es zu merken? Über welche sind wir uns stets sehr bewusst und auf welche nehmen wir wie Einfluss?“
Engagement und Ignoranz
„Ignoranz ist der Zustand von Verneinung der Handlungsfähigkeit. Wie viel Ignoranz verträgt das dahinter und wann quillt es unaufhaltsam hervor? Engagement wird definiert als „Einsatz für eine Sache, auch Anstrengung, Wohltätigkeit“ und findet sich als Wort häufig dann, wenn es um Aufschneiderei im Sinne der Werbung geht. Was könnte Engagement noch sein, wenn Wohltätigkeit heute auch Social Investment ist?“
Daten und mein Auftauchen darin
„Wer weiß mehr über mich als ich selbst? Bin ich ein Patient ohne Einblick in seine Akte? Gar ein Versuchskaninchen und was könnte daran positiv sein? Welche Auswirkungen hat es, wenn das Produkt mich findet, statt ich das Produkt, wenn ich das Produkt meiner Daten werde? Oder sind die Daten meine Ressource?“
‚the internet of things‘ und geldlose Ökonomie
„Was wenn eine Wohnung sich selbst besitzt und diese nur noch Bewohner anstatt Mieter kennt? Was bedeutet uns Privateigentum? Wo steht der Einzelne im Vergleich zum Ganzen im Umgang mit Ressourcen und fortwährender Vernetzung, die sich unserer Kontrolle entzieht? Ist das Teilen die sinnvolle geldlose Ökonomie der Zukunft? Was gehört mir, wenn allen alles gehört? Was macht dann das Ego?“
Jennifer Bennett, Anna-Carla Brokof
Website: http://jenben.jenniferbennett.net/